Im SternbIld der grossen Blume
von Nadine Olonetzky
pdf

Lichterketten, Lichterknäuel, Lichterflecken, gelb, grün, violett, blau, ein Flirren, tausend Farbpunkte, Geflimmer und das glitzernde Aufscheinen eines Gesichts, ein aus dem dunklen Raum auftauchendes Gelichter, ein gespensterhaftes Gesindel, das sich an einem seltsamen Nachthimmel herumtreibt? Romeo Vendrames zwei Fotoserien «Neutrino head» und «Neutrino half», 2004–06 entstanden, bewegen sich an der Grenze, wo sich die Figur auflöst ins Ungegenständliche, die Abstraktion überhand nimmt. Das Gesicht, das man mehr ahnt als erkennt, und die Halbfigur, die im schwarzen Umraum zu schweben scheint, bestehen aus Wolken von Lichtpunkten, wirken wie schwerelose funkelnde Schmuckstücke auch, sie erinnern an kosmische Phänomene, an einen – zwar so noch nie gesehenen – Sternenhimmel, eine fremde Milchstrasse. Die unendliche Weite des Alls jedenfalls, die durch den schwarzen Umraum suggeriert wird und in der diese nahezu körperlosen Gesichter und glitzernden Figuren aufscheinen, diese sie umgebende unwirtliche Grösse, Einsamkeit, Kälte lassen einen frieren und zugleich daran denken, dass alles mit allem zusammenhängt, alles aus denselben Grundbausteinen zusammengesetzt ist, das Moos und der Stern, der Mensch und der Stein. Neutrinos allerdings, auf die der Titel der Serien deutet, «gehören nicht zu den Bausteinen des Kosmos» (1). Es sind winzigste, von der Sonne ausgestossene, subatomare Teilchen mit neutraler Ladung, «Gespensterteilchen mit unwesentlich kleiner Masse», sie schiessen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit von der Sonne zur Erde, schwirren in unvorstellbar grossen Mengen um uns herum und durch uns hindurch, sie durchdringen die Materie, gleich, was es auch sei, ein Baum, ein Berg, ein Mensch, ein Stein. Sie dringen in die Atomknäuel, die wir ab einer bestimmten Grösse mit unseren aus Atomen gebildeten Augen als Lebewesen, Pflanzen, Dinge erkennen können und die wir, trotzdem sie als «Wolken» von Protonen, Neutronen und Elektronen im Raum unterwegs sind, als vorläufig Halt versprechende Tatsachen und als Ausgangslage für allerlei Wahrnehmungen, Entscheidungen und Handlungen identifizieren. Wie anders wäre das Leben auch möglich – es ist ein Tanz im Raum in wechselnden atomaren Konstellationen, immer umschwirrt und durchdrungen von Neutrinos, Gespensterteilchen.

Stanislaw Lems phantastischer Roman «Solaris», in dem als «F-Gebilde» bezeichnete und als «Neutrino-Gefüge» identifizierte, durchaus unheimliche Figuren vorkommen, war für Romeo Vendrame Schlüssellektüre. Der lebende Ozean auf Solaris generiert die «Neutrino»-Figuren aus der Vergangenheit und dem Unterbewusstsein der drei auf dem Planeten stationierten Forscher. In den davon inspirierten «Neutrino»-Fotoserien buchstabiert Romeo Vendrame gewissermassen vom grossen, scheinbar einheitlichen Zusammenhang in den Mikrobereich zurück: Er atomisiert die scharfe Erscheinung des Porträts in mehrfachen Schritten, pulverisiert die Wahrnehmung des klaren Abbilds, das am Anfang steht, durch mehrfache mediale Transformation. Am Schluss steht ein Bild vom Bild vom Bild, und vom ursprünglichen klassischen Porträt oder der Halbfigur bleiben nur mehr Spuren, die Ahnung eines Menschen, ein Gelichter, das weder Mann noch Frau ist, vielmehr ein neutrales Wesen, das herumspukt im Raum, das vielleicht aus der Vergangenheit oder dem Unterbewusstsein aufleuchtet und sich für einen Moment hat einfangen lassen im Format des Bildes. Möglich aber wird dieses Aufscheinen im Bild nur durch Bild produzierende Verfahren; am Ende der Verwandlungen steht eine Bild-Wahrheit ohne Referenz zur sichtbaren Welt.

Ursprünglich Schriftsetzer, von 1979 bis 1991 experimenteller Musiker, später bildender Künstler, begibt sich Romeo Vendrame in jedem Medium, das er wählt, auf Spurensuche: Spuren von Erinnerung, Spuren von visuellen Eindrücken und Farben, Spuren von Klängen. Als hellhöriger, für Zufälle und die Poesie des Augenblicks offener Amateur im Wortsinn macht er sich, unbeschwert von professionell angeeigneten Sachzwängen, an die Entdeckung eines neuen Mediums. Da ist einmal die Geräuschmusik, die er gewöhnlichen Alltagsdingen improvisierend entlockte und die bezeichnenderweise starke visuelle Eindrücke evoziert. Wenn man etwa «Die Verteilung der Winde» und «Im Wasser» hört, beides Musikstücke, die auf seiner CD «the principle of moments» (RecRec, 1992) zu finden sind, ziehen Bilder vor dem inneren Auge vorüber, ein Film in mehreren Sequenzen.

1997 entdeckt Romeo Vendrame die Fotografie für sich. Seither arbeitet er mit den Mitteln dieses Mediums, jedoch interessieren ihn die malerischen Qualitäten mehr als die traditionell abbildenden der Fotografie. Er fotografiert zwar einen in der sichtbaren Welt vorhandenen Gegenstand, doch das fertige Bild zeigt eine Wirklichkeit, die nicht direkt etwas mit dem Objekt zu tun hat. Vielmehr sind es die medialen Umwege, die den Zauber des Bilds ausmachen. Und das Unsichtbare, die Geister sozusagen, die in den Menschen, Dingen, den Blumen, Gräsern, Bäumen wohnen und in der Luft vor dem Kameraobjektiv herumschwirren – oder vielleicht sind es die Neutrinos –, werden plötzlich sichtbar im Bild, so scheint es.

Auch in der dreiteiligen Serie «low life» (1998/99) erinnern kreisförmige Flächen an weit entfernt durchs All sausende Planeten. Gleichzeitig wissenschaftlichen Aufnahmen von Eizellen ähnlich (Teil 1), bleiben die Motive der Bilder letztlich undefinierbar. Man assoziiert vielleicht unbekannte (Flug-)Objekte, die in himmelartigen Farbräumen unterwegs sind oder im Wasser schwimmen (Teil 3), erkennt seltsame Zwitterwesen – halb Pflanze, halb Tier: eigentlich gänzlich unbenennbar – und unerklärliche Landschaften. Man meint Kunststoffe zu sehen und denkt zugleich an die krustigen Oberflächen von Salzseen (Teil 2), kurz: Man bringt nichts auf einen einzigen Begriff. Was die Serie in sich und mit den anderen Arbeiten verbindet, sind die verwirrende Perspektive, die gelegentlich erkennbaren Spiegelachsen und der Blick, der gleichzeitig in zwei Richtungen zu gehen scheint: in mikroskopische Kleinheit hinein und von da in weite Fernen, riesige Grössen und wieder zurück ins Winzige. Ausgehend von dreidimensionalen Objekten und farbigen Oberflächen hat Romeo Vendrame mit dieser frühen Serie abstrakte Bildwirklichkeiten geschaffen, die ortlos, namenlos, irgendwo am Anfang eines noch unbestimmten Etwas stehen.

Ein weiterer wichtiger Referenzpunkt für Romeo Vendrames Arbeit ist der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk, den er in seinem ersten Buch, «Afterglow» (2), zitiert: «Was mich jetzt erreicht, sind nur ihre Spuren, Phantome des Bezeichneten, aufgehalten auf halbem Weg zwischen Existenz und Benennung.» Mit seinem «Art of Memory»-Projekt (1999/2000) untersucht Vendrame anhand von Familienbildern, die ihm von Freunden und Bekannten als bedeutsame Bilder gegeben wurden, die Konstruktion von individueller und kollektiver Erinnerung. Was erinnert man wie und weshalb und welchen Ausschnitt wählt man und schneidet also vom Gesamtbild was genau weg? Und aus welchem Blickwinkel wird gesehen und festgehalten, mit welchen Worten erzählt? Familienereignisse werden bekanntlich von jedem Familienmitglied in einer anderen Version erzählt. Dies ist eine im Grunde genuin künstlerische Tätigkeit, da die Künste das kulturelle Kollektivgedächtnis (mit) herausbilden, indem sie Erinnerungs- und Aufarbeitungsarbeit leisten, die zugleich Infragestellung ist und Neuorientierung bietet, Zorn erregt, produktive Verwirrung stiftet, zum Lachen bringt.

Wie die «Neutrino»-Serien scheint auch die Fotoarbeit «curiosus naturae spectator» (cns, seit 2002), in der Romeo Vendrame zwar von der irdischen Flora ausgeht, sie aber wiederum transformiert, nicht von dieser Welt zu sein. Vielmehr wirkt sie, als sei sie in einem Märchenwald entstanden, an einem nicht genau lokalisierbaren Ort jedenfalls. Der Blick geht hier nah heran und entdeckt im Gewöhnlichen den Zauber und im Kleinen das Grosse. Es sind Blumen, Gräser, Bäume, fotografiert, doch mit den Mitteln der Fotografie schafft Romeo Vendrame eine ganz eigene malerische Bild- und Farbwirklichkeit. Sein Blick auf den Boden und in die Nähe wird durch die mediale Verwandlung des fotografierten Objekts auch hier zu einem Blick in ein phantastisches Firmament: in die Ferne eines auf diese Weise nicht existierenden Alls. Der im Bild nicht sichtbare Horizont wird dabei gleichsam zur imaginären Symmetrieachse, wo sich das Oben und Unten spiegelt. Der Betrachtende steht Kopf und wähnt sich im sternenübersäten Nachthimmel genauso wie auf der blumenübersäten Erde – und in einer unbekannten, neuen Wirklichkeit zugleich, in einer Welt eben, die es nur im Bild gibt.

In der Rolle des neugierigen Naturbetrachters fängt Romeo Vendrame die visuellen Zeichen, die die Blumen, Gräser, Bäume aussenden, gewissermassen im Flug auf und verwandelt sie in eine neue Bildrealität. Märchenhaften Sichten im Zwielicht gleich, vermitteln die Bilder die phantastisch anmutende Atmosphäre einer halb unberührten, halb künstlich wirkenden Natur. Als analog fotografierte, nicht am Computer bearbeitete Bild-Erfindungen haben sie die Stimmung einer romantisch inspirierten Gegenbewegung zum digitalen Bildgenerierungsprozess: Sind sie also die Natur mystifizierende Sehnsuchtsbilder im Zeitalter des technologischen Bilds? Sie versetzen einen jedenfalls in einen aperspektivisch gestalteten Erlebnisraum, in dem die Farbe eine visionär-traumhafte Realität erschafft. Diese Serie hat Romeo Vendrame nun durch Aufnahmen von Bergen erweitert. Als wären es Berge eines fremden Planeten oder Mondes, deuten diese surreal anmutenden Landschaften nicht auf reale Gegenden, sondern auf diejenigen Berglandschaften, die etwa aus Science-Fiction-Filmen oder phantastischer Literatur in unser Bildergedächtnis eingedrungen sind. Sie rufen unsere Vorstellungen von zauberhaften, unwirklichen wie geheimnisvollen und beängstigenden Welt- und Seelengegenden wach, holen die Landschaften hervor, die wir im Schlaf in merkwürdigem Licht oder ungewohnten Farben aus dunklen Tiefen auftauchen sehen. Sie thematisieren einerseits die Verquickung von Betrachtung und Vorstellung von Natur, rühren andererseits aber vor allem an innere Landschaften, zeigen auf bodenlose Wirklichkeiten, die zugleich mit dem atomisierten und vor Gespensterteilchen nur so schwirrenden Leben versöhnt scheinen.

1 Govert Schilling, Unser Universum, Kosmos, Stuttgart 2004
2 Romeo Vendrame, Afterglow, edition fink, Zürich 2001
zurück