CHOREOGRAPHY
von Roberta Valtorta
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Romeo Vendrame definiert sich als «Autor und Regisseur» dieses Zyklus. Als «Autor» hat er vor 40 Jahren, in den 1970ern, die dieser Serie zugrundeliegenden Fotografien aufgenommen. «Regisseur» ist er, da er heute, nach dieser langen Zeit, diese Aufnahmen wieder in Betracht zieht und sie grundlegend transformiert. Diese zeitliche Interaktion zwischen den Jahrzehnten, den Epochen, die so weit voneinander entfernt sind, bezeichnet er als «Tanz» – der dieser Arbeit den Titel «Choreography» verliehen hat. Vendrame nutzt das Konzept des Tanzes, um die komplexen rhythmischen Vorgänge der Erinnerung aufzuzeigen. Auf der sichtbaren Ebene stößt er einen Prozess an, der Erfahrenes, Gesehenes und Gedachtes wachruft und wiederbelebt, und das auf eine sehr intensive Art und Weise.


In den 1970er-Jahren besuchte Vendrame als junger Mann London und nutzte dort wie so viele die Fotografie, um Orte und Situationen, die seine Aufmerksamkeit erregten, festzuhalten: Die erste Ebene der Fotografie liegt seit jeher im Konzept der Dokumentation und Erinnerung. Im Abstand von vielen Jahren wird das fotografische Londoner Bild für Vendrame dann jedoch zu einem privilegierten Territorium, in dem er eine neue und persönlichere Vision entwickeln kann, so als würde er sich selbst wiederfinden. Die Zeit ist vergangen, seine Auffassung der Fotografie hat sich verändert.

Marcel Proust hat uns gelehrt, dass es eine unfreiwillige Erinnerung gibt, die aufgrund von plötzlichen und unerwarteten Verbindungen einfach «geschieht». Darüber hinaus gibt es aber auch eine freiwillige Erinnerung, die bewusst hervorgerufen wird und somit eine gewünschte und gewollte Erinnerung produziert. Vendrame scheint den Kriterien dieser zweiten Erinnerungsart zu folgen, denn er bearbeitet die Fotografien, die er vor Jahren gemacht hat, ganz bewusst, indem er sie neu betrachtet und sie folglich neu erlebt. Doch man kann auch feststellen, dass in den Transformationsprozess dieser Bilder, denen er Leben einhaucht, zusätzlich kreative Handlungen einfließen, die sicher ungewollt sind und nicht bis ins Letzte vom Autor kontrolliert, sondern von reinen Gefühlen und Empfindungen geleitet werden.

Vendrame hat Graham Greenes Roman «Der menschliche Faktor» mit Interesse gelesen und sich von dessen Atmosphäre forttragen lassen: Diese Lektüre ist der psychologische Schlüssel für das London von einst, der ihm hilft, die Stadt jener Jahre «wiederzusehen».

Die Straßen der Stadt, die Architektur, die urbanen Schilder, die Schriftzüge der Läden und der Reklame, die Innenräume – all diese unterschiedlichen Umgebungen erkundet Vendrame durch die Farbe und das Licht neu: Die meist kräftigen Farben werden zu flächigen Grundierungen, so als wollten sie Notwendiges unterstreichen. Manchmal arbeitet er sie mit solcher Kraft in das Bild ein, dass sie fast die Details übertünchen. Das Licht hingegen erhellt nicht alles, sondern schimmert transparent, in Streifen, punktuell. Manche Bereiche erscheinen plötzlich ganz strahlend, sodass man Orte und damit ungestüm auftauchende Erinnerung wiederentdeckt.

Bekanntermaßen überkommt uns eine Erinnerung nicht als Ganzes, sondern als etwas Bruchstückhaftes; sie scheint auf in Details, zonal, diskontinuierlich. Die Farben bilden zusammen mit dem Licht, ohne welches jene gar nicht existieren könnten, die Grundlage dafür. Michel Pastoureau ruft uns ins Gedächtnis, dass wir uns nicht in Schwarz-Weiß oder besser gesagt in Hell-Dunkel erinnern, wie wir immer glauben: Nur durch die Farben dringen die Erinnerungen zu uns, wenn auch unvermittelt und unbeständig. Der kreative Ansatz von Vendrame scheint dies zu bestätigen, indem er im Rahmen seiner ganz persönlichen Erfahrungen die unauslöschliche Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bildhaft unter Beweis stellt.

Roberta Valtorta
Wissenschaftliche Direktorin, Museo di Fotografia Contemporanea, Mailand
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