Die Lichter von London – Romeo Vendrames fotografische Serie Choreography
von Lena Fritsch
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Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein ... Und dann mit einem Male war die Erinnerung da.
(Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1922)

London calling to the faraway towns
Now war is declared, and battle come down.
(The Clash, London Calling, 1979)

In warmen Gelbtönen leuchten die Straßenlaternen und Reklamelichter im Zentrum der fotografischen Komposition um die Wette mit einer rot flimmernden Neonschrift, die zur Raymond Revuebar einlädt. In der schmalen Gasse unterhalb der Bar sind verschwommen die dunklen Silhouetten von Menschen zu erahnen, die sich den Verführungen der nächtlichen Großstadt hingeben. Was sich hinter dem kleinen vergitterten Fenster der altmodischen Revuebar in Soho abspielt, bleibt nur zu vermuten. Auf einer anderen Fotografie leuchtet der unweit gelegene Taboo Revue Stripclub verwaschen in der tiefschwarzen Dunkelheit. Und auf der regennassen Wardour Street strahlt in gelb-orangenen Tönen der berühmte Musikclub Marquee. Vor ihm parkt ein Auto, die Tür des Clubs scheint geöffnet – womöglich beginnt gleich ein Blues- oder Rock-Konzert.

Diese atmosphärischen Bilder sind Teil von Romeo Vendrames fotografischem Zyklus Choreography (seit 2014). Sie basieren auf Fotografien, die Vendrame im London der 1970er Jahre aufgenommen hat. Neben Aufnahmen des nächtlichen Soho umfasst die Serie auch Fotografien von bekannten Bauwerken wie dem Westminster Palace und von zeitgenössischen Gebäuden, die den Fotografen wegen ihrer Architektur interessierten, sowie Straßenszenen in Brixton oder am Piccadilly Circus. Die Aufnahmen der 1970er Jahre sind dabei nur Ausgangspunkt des künstlerischen Herstellungsprozesses: Angeregt durch Graham Greenes in London spielenden Spionageroman Der menschliche Faktor (1978) sichtet Vendrame im Frühling 2014 seine alten Dias. Er beginnt sie mit einem Diaprojektor in seinem Atelier zu projizieren, nutzt Filter und transparente Materialien und fotografiert die so entstehenden Lichtbilder (teilweise mehrfach) ab. Vendrame inszeniert sein Material der 1970er Jahre als «Choreographie» neu. Die Fotografien tragen die Spuren der Londoner Lichter von vor vierzig Jahren ebenso in sich wie das flüchtige Leuchten des Diaprojektors im Züricher Atelier in den vergangenen drei Jahren. Es sind diese «medialen Umwege, die den Zauber» der Fotografien ausmachen.

Als Motiv in der Fotografie hat London eine lange Geschichte: Man denke an John Thomsons journalistische Fotografien Street Life in London (1877) oder an Werke der 1930er Jahre, etwa Bill Brandts Buch Night in London (1938). In den 1960er und 70er Jahren nahmen Fotografen aus aller Welt das Treiben der Großstadt auf, beispielsweise Bruce Davidson, James Barnor, Martine Franck, Karen Knorr und Olivier Richon. Knorr und Richon sind vor allem bekannt für ihre Fotografien der Londoner Punk-Szene, die sie 1978 erstmals in der Photographers’ Gallery in London ausstellten. Auch Vendrames Fotografien und ihre anschaulichen Titel, die immer wieder Anspielungen auf Musik enthalten, spiegeln seine Faszination für die Musik- und Unterhaltungswelt der Metropole wider. Besonders stimmungsvoll sind die bei Nacht aufgenommenen Fotografien, die den durch Soho flanierenden und in Musikclubs einkehrenden Fotografen (und Musiker) Vendrame erahnen lassen, beispielsweise die zuvor beschriebenen Werke Jam at Raymond’s am Walkers Court, Voodoo, das den Taboo Revue Club zeigt, oder Rainy Night Dream (Still) mit dem Marquee Club, in dem auch Jimi Hendrix auftrat. Die drei Fotografien Robbie Opiliones, Busker I; Robbie Opiliones, Busker II; und Robbie Opiliones, Busker III präsentieren einen Straßenmusiker aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen Farbvariationen. Sein Gesicht ist durch einen Hut verdeckt, die Gitarre glüht in einem hellgelben Licht.

Vendrames Aufnahmen sind als Zeitdokumente interessant, da sie von einem vergangenen London zeugen und die pulsierende Atmosphäre der 1970er Jahre einfangen. Sie erinnern unmittelbar an die Rock- und Folkmusik von damals: „See the dazzling nightlife grow beyond the dawn and burning in the heart of Soho“, sangen Bert Jansch & John Renbourn 1966 und die Punkband The Clash besang den Sog der gefährlich-faszinierenden Großstadt London einschlägig mit ihren Hits London Calling (1979) und Guns of Brixton (1979). Viele der Gebäude der Choreography-Serie gibt es nicht mehr oder sie sind umgebaut, und die Londoner Unterhaltungskultur hat in den vergangenen vierzig Jahren zahlreiche Veränderungen durchlebt. Der Taboo Stripclub mit seinen „non stop live shows“ existiert längst nicht mehr und auch der Marquee Club, der als „Mekka“ der britischen Blues- und Rockszene galt, musste 2008 schließen. Die Raymond Revuebar, die 1958 eröffnet wurde, war nach dem berühmt-berüchtigten Unternehmer Paul Raymond, dem Besitzer des ersten Stripclubs in England, benannt. Er erwarb zahlreiche Immobilien in Soho und verlegte Softporno-Magazine wie Men Only oder Mayfair. Die Bar wurde 2004 geschlossen und unter neuem Namen und neuem Management in einem anderen Gebäude „wiedereröffnet“. Das Haus am Walkers Court beherbergt seit 2011 den Nachtclub The Box, der ein zeitgenössischeres Konzept sexueller Unterhaltung mit Burlesque- und Fetisch-Shows präsentiert.

Gleichzeitig gehen die Bilder der Choreography-Serie über einen rein dokumentarischen Charakter hinaus. Sie stellen ihn vielmehr in Frage. Denn durch den künstlerischen Prozess des Abfotografierens der Dia-Projektion und Vendrames analoge Eingriffe werden die „Original“-Aufnahmen verfremdet und in der Gegenwart neu interpretiert. Die Projektion der alten London-Bilder wird zum Sinnbild für visuelle Erinnerung: Bestimmte Ausschnitte und Farben werden fokussiert, Details weggelassen und neue Elemente werden diskret hinzugefügt – ganz so, als wolle Vendrame die Suggestivität seiner Erinnerungen an London betonen. Dabei lassen die verschwommenen Formen und blass-warmen Farben der Fotografien eine geheimnisvolle Ästhetik entstehen, die an das Uneindeutige und Entrückte von inneren Gedächtnisbildern erinnert. Erinnerungen tauchen oftmals unkontrolliert und unvermutet aus der Dunkelheit des Gedächtnisses auf – bei Marcel Proust ist es beispielsweise der süße Geschmack des Madeleine-Gebäcks, der Bilder vergangener Zeiten hervorruft: „Und dann mit einem Male war die Erinnerung da“. Die Lichter, die vor allem in Vendrames nächtlichen Aufnahmen von Soho aus der sie umhüllenden Dunkelheit kurzzeitig aufzuleuchten scheinen, suggerieren das Flüchtige des menschlichen Erinnerns und sein Zusammenspiel mit dem Vergessen. Die Fotohistorikerin Roberta Valtorta schreibt treffend zur Verbindung von Licht, Farbe und Erinnerung in Choreography: «Das Licht ... erhellt nicht alles, sondern schimmert transparent ... Nur durch die Farben dringen die Erinnerungen zu uns, wenn auch unvermittelt und unbeständig.» Das Phänomen der visuellen Erinnerung spielt auch in früheren Werken von Vendrame eine wesentliche Rolle, beispielsweise in seinen Fotoserien Afterglow (1999–2001) oder I forget who I am, when I’m with you (2001). Wie ein roter Faden zieht es sich durch sein fotografisches Werk. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Benjamin Marius Schmidt hat sich mit der Verbindung von fototechnologischem Sehen und innerer Wahrnehmung in Afterglow befasst und schlussfolgert, dass die Fotografien ein „stimmiges, sinnlich erfahrbares Gefühl davon vermitteln, wie das Gedächtnis Spuren legt und Erinnerungen einem fortwährenden Prozess der Um- und Neuorganisation“ unterworfen sind. Diese Interpretation trifft auch auf die Choreography-Fotografien zu. Dabei präsentieren sie London nicht nur als nostalgisch-utopische Bilder der Erinnerung, sondern auch als eine in der Gegenwart erfahrbare, leuchtende Stadt.«London Calling» – auch heute noch.

 

Lena Fritsch
Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst am Ashmolean Museum (Universität Oxford)
 

 
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